Im August 2019 bereise ich Zentraltibet. Das Wissen um die Menschenrechtsverletzungen lässt sich nicht ausblenden. Es begleitet mich an jedem einzelnen Tag dieser wunderschönen Reise.
Text: Annick Busset Fotos: ©Tim Loosli
Peking – Shanghai – Hong Kong – Kathmandu. Mit dieser fake Reiseroute, ausgestellt vom Reisebüro, beantragen mein Freund und ich ein Visum für China. Wer auf der chinesischen Botschaft erwähnt, dass er oder sie nach Tibet will, bekommt mit grosser Wahrscheinlichkeit kein Touristenvisum. Den Tibet Permit wird der Guide für unsere Reisegruppe erst vor Ort beantragen.
Wir sind acht Personen aus ganz Europa und unsere Motivation für die Reise könnte unterschiedlicher nicht sein: Die Jüngste ist 24 Jahre alt und das Reiseziel ist für sie zweitrangig, wichtig sei die «extraordinary travel experience». Zwei Personen haben Tibet vor Jahren besucht und wollen sehen, wie sich das Land verändert hat. Einer träumt vom Mount Everest. Und ich? Ich habe als 12-jähriges Mädchen in einem Roman das erste Mal über Tibet gelesen und was ich da erfahren habe, lässt mich nicht mehr los.
Unsere tatsächliche Reise führt uns von Peking mit der Tibet-Bahn nach Lhasa, über Land zu zahlreichen Klöstern, über hohe Pässe zum Everest Base Camp und schliesslich über die chinesisch-nepalesische Grenze nach Kathmandu. Mit uns reisen zwei tibetische Guides, einer vom Reiseveranstalter, der andere von der Regierung organisiert sowie ein tibetischer Fahrer. Ihr könnt uns alles fragen, sagen sie zu Beginn der Reise, aber Fragen zur politischen Situation können wir nicht beantworten. Die erste von vielen heiklen Frage stellt ein Mitglied unserer Reisegruppe in der Tibet-Bahn: Warum sieht man überall die chinesische Flagge und nicht die tibetische? Der Guide schüttelt den Kopf und spricht von etwas anderem. Sie haben sich Taktiken zugelegt, um kritischen Fragen und Aussagen auszuweichen: Sie machen Witze oder Sprüche, sie laufen weg, sie sagen etwas Unverbindliches oder wechseln das Thema. Vor Ort können wir ihre Aussagen nicht prüfen; das Internet ist zensiert und Reiseführer dürfen nicht eingeführt werden.
Die Tibet-Bahn ist die höchstgelegene Eisenbahnlinie der Welt und seit 2006 in Betrieb. Sie ist umstritten: für China ist sie eine technische Meisterleistung, für Tibet ein Symbol der Besatzungsmacht. Für uns ist die Fahrt unglaublich eindrücklich. Die Landschaften wechseln von grün zu rau und karg, die Gebiete sind dünn besiedelt und zwischendurch tauchen riesige teils bewohnte, teils unbewohnte Städte auf.
Nach 45 Stunden Fahrt erreichen wir Lhasa auf 3650 Meter über Meer. Der Bahnhof ist hochmodern, die Einreisekontrolle erstaunlich kurz. Wir bleiben drei Tage, um uns an die Höhe zu gewöhnen. Mein Freund und ich haben Glück: leichtes Kopfweh und Kurzatmigkeit beim Treppensteigen, ansonsten geht es uns bestens. Eine Person unserer Reisegruppe muss für die Sauerstoffversorgung ins Spital, eine andere leidet während der gesamten Reise an der Höhenkrankheit.
Uns beeindruckt die Grösse der Stadt, der viele Verkehr und der Gegensatz von Tradition und Moderne. Zahlreiche tibetische Pilger/innen in traditioneller Kleidung machen in der Stadt ihre Niederwerfungen. Der Besuch des Potala Palasts ist ein Highlight. Ich möchte ein Fotoband kaufen, sagt jemand unserer Gruppe. Wartet bis Kathmandu, sagt unser Guide, dort gibt es schöne Bücher. Ich möchte es aber hier in Tibet kaufen, antwortet die Person. Es gibt keine Fotobücher über Tibet in Tibet, sagt unser Guide. Auf dem Dach des Potalas weht die chinesische Flagge.
Die Überlandfahrten im Minibus sind lang, aber kurzweilig. Die Landschaften sind atemberaubend schön, der Himmel spektakulär und die Wolken zum Greifen nah. Unsere Guides haben einen guten Humor, mit ihnen zu reisen ist ein Erlebnis. Die Reise führt uns zu zahlreichen Klöstern: Jokhang, Sera, Drepung, Pelkhor Chöde, Gyantse Kumbum, Rongpu. Wir lernen viel über den tibetischen Buddhismus, schauen den Nonnen und Mönchen beim Debattieren und Beten zu. In den Klöstern fallen uns die vielen Kameras auf. Auch in unserem Minibus sind drei Kameras montiert. Immer wieder passieren wir Polizeicheckpoints oder Militäreinrichtungen. Wir essen Nudelsuppe, gebratenen Reis, Momos und tibetische Teigwaren. Wer will, bekommt Pizza und Cola. Je nach Ortschaft ist der Massentourismus spürbar; es gibt Sehenswürdigkeiten, die sind von (chinesischen) Tourist/innen überlaufen. Mein Freund fotografiert die riesigen Plakatwände, die überall stehen: In Dörfern, entlang der Strassen, im nirgendwo. Rot mit gelber Schrift. Was steht da drauf, will er vom Guide wissen. Das ist Werbung, antwortet dieser. Zuhause in Bern fragen wir Google Translate: Dank der Volksrepublik China geht es Westchina gut.
In den Unterkünften sind Warmwasser, Strom und Heizung die Regel. Nur im Rongbuk Monastery Guest House auf über 5000 Meter über Meer frieren wir mangels Heizung so richtig und schlafen kaum. Am frühen Morgen stehen wir auf und werden mit einer perfekten Sicht auf den Mount Everest belohnt.
Nach rund zwei Wochen verabschieden wir uns an der chinesisch-nepalesischen Grenze von unseren Guides, sie dürfen das Land nicht verlassen. Was geht in ihnen vor? Zwischendurch glaubten wir, aus ihren Erzählungen gewisse Dinge herauszuhören. Oder interpretieren wir hinein, was wir hören wollen? Uns ist bewusst, dass sich ihr Wissen zusammensetzt aus den Erzählungen ihrer Eltern und Grosseltern, der Bildung örtlicher Schulen und Universitäten, den kontrollierten Medien, dem zensierten Internet sowie den Schilderungen von Touristen. Sie sind jung, haben nie in einem freien Tibet gelebt, tragen moderne Kleidung, sprechen Englisch, haben studiert. Wir wünschen ihnen ein glückliches Leben in Tibet.
Die Ausreisekontrolle ist erstaunlich lang.