Unsere erste Reise nach Asien

Von Peder Collet
Riom, November 2017

Im Herbst 2016 habe ich eine Patenschaft für ein tibetisches Mädchen übernommen. Das ist eine sehr schöne Aufgabe und seit der letzten Weihnachtszeit hat sie mir schon drei Briefe geschrieben.

In dieser Zeit ist die Sehnsucht gereift: „Wie wäre es, eine Reise nach Indien zu wagen?“ Schön und gut, aber allein, und dazu noch als Sehbehinderter, kann ich das kaum wagen. Begeistert habe ich einem Kameraden ein Foto meines Patenmädchens gezeigt und ihm von meinen Träumen erzählt. Er hat sich spontan und offen gezeigt und gleich gesagt: „Oh ja, das wäre doch schön! Ich werde es mir überlegen.“ Im Laufe des letzten Winters ist es an die Umsetzung der Idee gegangen. Nach den ersten Abklärungen bei einem Reisebüro haben wir uns für eine individuelle Reise entschieden, ganz auf eigene Faust. Der erste Schritt, den Antrag für das Visum für Indien zu stellen, ist glatt über die Bühne gegangen. Dann der Termin für den Flug und die Bestellung der Tickets Zürich – Delhi, Delhi – Dharamsala und zurück – auch schnell erledigt. Die Vorbereitung für die Reise und die Geschenke für das Patenmädchen – schon etwas schwieriger. Wie man sich täuschen kann in puncto Kleider, hat sich bald herausgestellt. Bei der Landung in Delhi ist mir sofort bewusst worden, dass ich eine viel zu warme Jacke mitgenommen hatte.
Der 15. Oktober 2017, drei Uhr morgens, ist gekommen: der Tag der Abreise. Am liebsten hätte ich die Reise gleich abgesagt. Jetzt wurde uns auf einmal bewusst, auf was für ein Abenteuer wir uns da einliessen. Aber alles war parat, also rein in das Wagnis! Nach dem langen Flug von Zürich nach Delhi wurden wir Schritt für Schritt mit der Welt Asiens konfrontiert. Und der grosse Unterschied ist uns dann auf der Autofahrt von Dharamsala nach Suja vor Augen geführt worden. Das Gehupe der Fahrzeuge und die mit Schotter überzogenen und löcherigen Strassen sind uns sofort aufgefallen, und ich habe mir vorgenommen, mich nie mehr über unsere, sich zum Teil in desolatem Zustand befindlichen, Feldwege, aufzuregen. Die idyllischen Bilder der Landschaft haben aber alles andere überwogen. Nach einer fast zweistündigen Fahrt sind wir durchgeschüttelt aber wohlbehalten im TCV-Center Suja angekommen. Ich dachte, unsere Betreuerin, Frau Tenzin Passang, sei eine gesetztere Dame. Wir waren daher nicht wenig erstaunt, eine zierliche junge Dame, feingliedrig wie eine Figur aus Jade und mit einer Haut wie kostbare Seide, anzutreffen, mit der tibetischen „Chuba“ gekleidet, was ihr noch eine zusätzliche Würde verlieh.
Nach der langen Reise waren wir froh, endlich unsere Glieder strecken zu können. Aber bald sind wir vom „Gwunder“ geweckt worden. Ein Trommeln und Pfeifen war zu hören. Unser erster Gedanke war: Spielen die für uns ein Willkommens-Ständchen? Später sind wir eines Besseren belehrt worden. Das sei nur die Probe für den Unabhängigkeitstag Indiens am 19. Oktober. Der offizielle Willkommenstee wurde sogleich serviert. Und nach der mitgebrachten Schokolade hat uns die Dame die ganze Zeit über ein herzliches Lächeln geschenkt. Unsere Befürchtung, die indische Kost würde uns zu schaffen machen, ist gleich am ersten Abend beschwichtigt worden. Das wunderbar gewürzte Lammfleisch mit Reis und Gemüse hat richtig gut geschmeckt. Die angenehm warmen Tage und die frischen Nächte sind für uns zwei Bergler ein ideales Reisewetter gewesen. Am Abend lässt der Himalaya mit einer frischen Brise grüssen.
Die erste Nacht im warmen Bett in Indien hat uns eine neue Geräuschkulisse beschert, nämlich das Gebell der Hunde. Der Kollege hat gemeint: „Die Hunde haben eine richtige Sprache und kommunizieren untereinander wie wir.“ Voller Spannung erwartete ich die erste Begegnung mit meinem Patenmädchen Tashi Tsomo. Sie hatte vom Lehrer für diesen Tag schulfrei bekommen. Das arme Mädchen (14 jährig) war so verdattert und so schüchtern, dass sie anfangs nicht die Hand reichen wollte. Erst durch gutes Zureden von Frau Passang hat sie es doch gewagt. Was der Anblick von zwei Europäern an Emotionen in ihr ausgelöst hat, das weiss nur sie. Der Tag mit uns zusammen hat dann ihren Gefühlen einen Ausgleich verliehen. Wir haben auch die Schwester von Frau Passang kennengelernt, Frau Tenzin Dosel. Gemeinsam haben wir den ersten Tempel besucht, im Dorf Bir oben am TCV-Center. Die beiden Schwestern haben sich rührend um uns gekümmert. Frau Dosel hat mir in kritischen Situationen bei schlechten Passagen und kritischen Lichtverhältnissen sogar die Hand gegeben, um mich zu führen. Ihre Fürsorge ist so herzlich gewesen, dass ich befürchtete, sie zu überfordern. Die zwei Schwestern hatten im Moment eine schwierige Zeit durchzumachen. Ihre Mutter hatte vor kurzem eine Gehirnblutung gehabt. Sie musste eine sechsstündige Autofahrt überstehen, was bei den nicht so guten indischen Strassenverhältnissen ohnehin schwierig ist, und noch dazu mit einem gewöhnlichen Taxi. Die arme Frau Dosel hat sie begleitet und musste für ihr körperliches Wohl besorgt sein. Am Tag nach der Operation wollten die Ärzte die arme Frau schon nach Hause schicken. Wir haben Frau Passang zugeredet, sie sollten doch ein paar Tage in einer Pension bleiben, bis ihre Mutter transportfähig sei. Das haben sie dann auch getan. Uns, verwöhnten Schweizern, ist die Situation in einem Schwellenland auf diese Weise deutlich vor Augen geführt worden.
Zusammen haben wir noch ein Kloster in der Nähe besucht. Der Weg dorthin führte durch eine richtiggehend romantische Gegend mit Feldern und Wald. Frau Passang hat uns vorher aufgeklärt, es gäbe einen „Bambi Road“ zu überwinden, das heisst einen etwas schwierigen Pfad. Für einen Berggänger kein Problem, dachte ich. Aber oh je! Wir mussten einen vom Monsun ausgewaschenen Pfad überwinden. Grosse lockere Steine und tiefe Rinnen mussten überwunden werden. Und schlussendlich im Kloster angekommen, mussten wir noch unzählige Treppen und Stufen bewältigen. Mit dem Anblick der tibetischen Architektur wurde die Mühe jedoch belohnt. Eindrücklich, diese für uns so fremde Welt. Buddhistische Architektur hatte ich bisher bloss von Bildern gekannt. Wie überwältigend ist es doch, diese ehrwürdigen Tempel und farbenprächtigen Bauten direkt zu erleben. Die vielen Stupas und die beeindruckenden Bauten verleihen dem Ort eine würdevolle Ausstrahlung. Und die andächtige Hingabe der Gläubigen macht auf dem nüchternen Europäer schon einen ehrwürdigen Eindruck. Während unseres Aufenthalts haben wir noch einen weiteren grossen Tempel besucht.
Der 19. Oktober ist der indische Unabhängigkeitstag. Schon morgens um sieben Uhr begann die Parade. Unzählige Fahnen haben der Parade eine Farbenpracht verliehen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Die Fahnen vom freien Tibet haben dominiert. Nach einigen Ansprachen wurde in einer Schweigeminute der tibetischen Märtyrer gedacht. Mir sind die vielen Tibeter, die bei der Flucht über die gefährlichen Pässe im Himalaya ihr Leben lassen mussten in den Sinn gekommen, und dabei sind mir Tränen der Betroffenheit gekommen. Mit der indischen und der tibetischen Landeshymne wurde der Höhepunkt der Feier eingeleitet und zum Schluss haben die jungen Schülerinnen und Schüler die Hymne auf den Dalai Lama gesungen, begleitet von typischen, tibetischen Musikinstrumenten.
Auch der Sportstag war ein grosses Ereignis. Wir sind auf die Ehrentribüne begleitet worden, von wo aus man einen beeindruckenden Blick über den ganzen Platz hatte. Vor uns stand für jeden auf einem kleinen Tisch ein Teller mit Gebäck und Zeitungen, und es wurde uns wiederholt Tee und Kuchen serviert. Die jungen Athleten haben ihr Bestes gegeben bei den verschiedenen Disziplinen der Leichtathletik. Selbst der Siegerpodest hat nicht gefehlt, und zum Schluss bekamen die besten Athleten eine Anerkennung, in Form der typischen „Khata“ (der traditionelle weisse Schal), von einem Mönch überreicht. Am Ende stellten wir fest: „In der Schweiz haben wir noch nie, und werden wohl auch nie mehr, einen Ehrenplatz bei einer Sportveranstaltung bekommen.“

Unsere Patenmädchen

Wir haben auch die Schule und die Unterkünfte der Schülerinnen und Schüler besichtigen dürfen. Das war ein eindrückliches Erlebnis. Es sind für unsere Verhältnisse grosse Klassen. Die Unterkünfte sind einfach aber zweckmässig, und es ist alles schön verräumt und sauber.
Mein Begleiter ist so positiv vom TCV und unserer Betreuerin eingenommen gewesen, dass er sich ebenfalls für eine Patenschaft entschlossen hat. Im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitstag und dem Sportstag haben die Schüler einige Tage frei bekommen. So hat der Aufenthalt für uns eine neue Dimension bekommen. Unsere Betreuerin hat eine Reise für drei Tage nach Dharamsala arrangiert. In einem Hotel mit netten Zimmern haben wir eine angenehme Unterkunft gefunden. Das erste „Abenteuer“ in einer indischen Stadt: auch das war ein einmaliges Erlebnis. Mein Patenmädchen hat sich rührend bemüht, mich durch den Verkehr und die Hindernisse der Stadt zu lotsen. Anfangs war sie sehr schüchtern. Auch ich musste meine anfänglichen Hemmungen überwinden und habe dann zu ihr gesagt: „Komm Tashi, geben wir uns doch besser gleich die Hand!“
Der Höhepunkt in Dharamsala war wohl der Besuch der Residenz des Dalai Lama und der des Haupttempels. Wie die Tibeter haben wir uns strikt nach den Gepflogenheiten gerichtet, sind drei Mal um den Tempel gelaufen, haben die Gebetsmühlen gedreht und natürlich im Tempel die Schuhe ausgezogen. Den nötigen Respekt den anderen Religionen zu zollen ist, so meine ich, Pflicht. Überhaupt hat mich der Buddhismus sehr positiv beeindruckt. Viel Volk war zu sehen, Jung und Alt. Mir kam der Gedanke: „Was haben diese gebeutelten Menschen alles durchgemacht? Der Glaube ist ihre grösste Stütze.“
Der beeindruckende Wasserfall war eine willkommene Abwechslung und unsere Mädchen konnten nicht genug bekommen vom Genuss des frischen Wassers. Meine liebe Tashi hat die Tasche mit den am Vormittag gekauften Schuhen und Hosen die ganze Zeit nicht aus der Hand gegeben.
Ein unvergessliches Erlebnis waren auch die Paraden auf dem grossen Platz. Wir waren erstaunt: Wie viel Disziplin braucht es, um so geschickt diese Figuren zu gestalten. Der Nachmittag mit den vielen musikalischen Tanzveranstaltungen hat bestätigt: Die Tibeter verfügen auch noch im Exil über eine rege und lebhafte Kultur.
Der krönende Abschluss war zweifelsohne der Besuch des Norbulinka Instituts in Lower Dharamsala. Der Tempel, das tibetische Museum und die Parks haben bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der echt tibetische Buttertee im beschaulichen Gartenrestaurant hat mir sehr gut geschmeckt. Ich hatte das Gefühl, „kuhwarmen“ Rahm zu trinken.
Die Rückreise war für unsere beiden Mädchen eine Tortur. Sie haben wohl selten die Gelegenheit, Auto zu fahren und ihnen war auf der ganzen Rückreise schlecht. Wir waren froh, noch ein paar ruhigere Tage zu verbringen. Trotzdem haben wir noch einen Tempel in der Nähe besucht. In dem Zusammenhang haben wir einen Ausflug an einen relativ nahen See unternommen. Er liegt in einem richtigen Gebirgstal. Die holprige Strasse hat mich an unsere Alpstrasse erinnert und die Begegnung mit einigen Kühen und einer stattlichen Ziegenherde haben dem Erlebnis noch ein Farbtupfer mehr verliehen. Überhaupt ist die Farbenpracht dieser Region beeindruckend. Bei einem Spaziergang in der idyllischen Umgebung des TCV-Centers haben wir ein Stimmungsbild festgehalten, das uns an ferne Kindertage erinnerte: Ein Bauer hütete seine Kühe auf einem abgeernteten Feld. Wir haben uns an die Zeit zurückerinnert, als wir noch unser Vieh auf den Maiensässen gehütet haben.
Am vorletzten Abend erfasste mich eine grosse Traurigkeit. Was wird wohl aus unseren Mädchen? Schaffen sie es, mit den Herausforderungen, die der indische Alltag ihnen stellt, fertig zu werden? Bewältigen sie die Schule, sodass sie einen guten Beruf erlernen können? Aber, beruhigte ich mich: sie sind in guten Händen. Auch hatte ich den Eindruck gewonnen, dass die Tibeter sehr lebenstüchtig sind. Hinzu kommt, dass sie mit ihrer Identität und ihrer Religion zwei starke Stützen haben. Am letzten Abend haben wir das Nachtessen zusammen mit unseren Patenmädchen und Frau Passang eingenommen. Dann haben wir uns mit Wehmut aber auch mit einem Glücksgefühl von den beiden Teenagern verabschiedet.
Die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit und die Hilfsbereitschaft der Tibeter werden für immer in unserem Gedächtnis bleiben. Es ist ein Ereignis fürs Leben gewesen. Am Abend des 31. Oktober wollten wir uns von Frau Passang verabschieden. Wir hatten nämlich am 1. November bereits morgens um fünf Uhr ein Taxi bestellt, um rechtzeitig zum Flughafen in Dharamsala zu gelangen. Frau Passang meinte: „Oh nein, der Direktor der Schule und ich möchten uns direkt verabschieden und werden um halb fünf bei euch vorbei kommen“ Und tatsächlich, beide sind in aller Frühe vorbeigekommen. Der feierliche Abschluss: Uns ist eine „Khata“ umgelegt worden. Das hat mich tief berührt und ich werde das Erlebnis nie vergessen. Eine letzte Umarmung und wir haben versprochen, in zwei Jahren wieder zu kommen.
Kaum daheim, und das Fernweh nach der fremden und doch so sympathischen Welt hat schon von mir Besitz ergriffen. Was können wir von dieser tibetischen Welt lernen? Ich habe mir vorgenommen, mich etwas im Konsumverhalten einzuschränken. Weniger bringt mehr für unser Wohlergehen.
Es ist ohne Zweifel schön, geruhsame, bildende, luxuriöse oder abenteuerliche Ferien zu verleben. Aber leuchtende, dankbare Kinderaugen zu sehen und gute, hilfsbereite Menschen kennen zu lernen ist mit nichts zu vergleichen. Wir geben etwas, das wir entbehren können, und sie belohnen uns mit etwas, das in unserer westlichen Gesellschaft fast verloren gegangen ist: mit Herzlichkeit, Wohlwollen und echtem Mitgefühl.