Wie TCV-Schüler und -Schülerinnen die Pandemie erlebten

Das bevölkerungsreiche Indien war sehr stark von der Corona-Pandemie betroffen, sowohl in der ersten ‚Welle‘, März-Sept. 2020 als auch in der zweiten ‚Welle‘  ab April 2021. Wie auch in europäischen Ländern verhängte die Regierung ab Ende März 2020 einen landesweiten Lockdown und liess die Schulen schliessen.

Tibetan Children’s Villages (TCV) erlaubte daher den Schüler:innen zu ihren Familien nach Hause zurückzukehren. Ungefähr 500 Kinder verblieben in den einzelnen Kinderdörfern. Ab  Juni 2020 wurde von TCV Online-Unterricht eingerichtet. Die Schüler:innen der 10. und 12. Klasse konnten ab November 2020 wieder in die Schulen zurückkehren, um sich für ihre Abschlussexamen vorzubereiten. Nachdem TCV zum neuen Schuljahr im März 2021 wieder alle Kinder in den Schulen begrüsst hatte, kam die ‚Zweite Welle‘ und die Schulen mussten erneut geschlossen werden. Nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres entschied die Leitung, dass die Kinder diesmal in den Kinderdörfern bleiben und von den Lehrpersonen in ihren Häusern unterrichtet werden. Für die Kinder, die es vorzogen, bei ihren Familien zu bleiben, lief der Online-Unterricht weiter.

Einige Schüler:innen aus den TCV-Schulen in Dharamsala und Suja haben ihre Eindrücke und Erlebnisse aus dieser Zeit für uns in Worte und Bilder gefasst.

Meine persönliche Erfahrung mit der Pandemie

Tenzin Wayser, 8. Klasse (TCV Suja)
(Junge)

Ich musste zu Hause bleiben und es war sehr langweilig. Dem Unterricht musste ich online folgen und ich verstand nicht viel. Alle Menschen kämpften gegen Corona und viele Familienangehörige starben wegen Corona. Es tat mir sehr leid. Ich fühlte mich manchmal sehr glücklich, weil niemand aus meiner Familie am Corona-Virus starb. Es geht ihnen allen gut. Oft fragte ich mich, warum die Menschen so sehr kämpfen müssen. Ich wünschte, ich könnte ihnen helfen und allen angesteckten Menschen heilen. Ich wünschte, ich wäre ein grosser Wissenschaftler, der alle Menschen heilt. Ich pflegte dafür zu beten, dass kein lebendes Wesen mehr unter diesem furchtbaren Virus leiden sollte. Mir ging es gut, aber mein Geist dachte ständig an die armen Menschen, die litten.

Ich hatte Angst rauszugehen, und es war auch gar nicht erlaubt raus zu gehen. Das war verboten zu der Zeit. Ganz Indien stand unter dem Lockdown wegen des fürchterlichen Virus. Ich hatte Angst, dass ich wachsen würde, aber mein Geist nicht. Es war wie, wenn man Wasser in ein gesprungenes Glas giesst.  Ich weiss, dass viele Schüler:innen so litten wie ich und ich wünschte mir, wieder normal in die Schule gehen zu können. Ich wünschte mir immer, dass die Menschen nicht auf diese Art sterben würden. Möge die Pandemie bald ein Ende nehmen und alle glücklich mit ihren Familien leben.

Sehnsucht nach der TCV Schule

Tenzin Zompa, 9. Klasse (TCV Suja)
(Mädchen)

Anfänglich dachte ich mir, wie vergnüglich es sein würde, wenn ich ein ganzes Jahr Ferien bekommen würde, aber wenn man dann das bekommt, was man sich wünscht. […] Fast ein ganzes Jahr lang zu Hause zu bleiben war auf eine Weise super, aber ich bekam ‚Schulweh‘ statt Heimweh. Es ist nicht so, dass ich mein Zuhause und mein Dorf nicht gern hätte. Es ist ein sehr friedlicher Ort mit all den wunderschönen Wiesen. Wenn man in einem Dorf lebt, bedeutet das, dass  man seinen Eltern bei der Arbeit auf dem Hof helfen muss.

Wir haben kein luxuriöses Leben, aber wir geniessen die guten Beziehungen zueinander. Während der Winterzeit verbringen wir viele Stunden an der Wärme des brennenden Feuers, geniessen es und lachen viel. Normalerweise haben wir nur die Winterzeit, um Zeit mit der Familie zu Hause zu verbringen, wegen der Pandemie jedoch konnte ich ein ganzes Jahr mit meiner Familie verbringen. Ich genoss alle vier Jahreszeiten.

Im Frühling wuchsen überall  die Beeren und ich konnte sie ständig essen, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Nichtsdestotrotz vermisste ich meine Schule sehr und manchmal, wenn ich ein bisschen Zeit hatte, dachte ich an die bedeutsamen und schönen Momente in der Schule.

Online-Unterricht war nicht so gut wie Präsenzunterricht, aber er hat geholfen, meine Sehnsucht nach der Schule etwas zu lindern. Ich fragte mich, wann diese Pandemie zu Ende sein würde und wann ich wieder zur Schule würde gehen können. Als der Tag endlich kam, war ich sehr glücklich und gespannt darauf, wie meine Schulkamerad/innen nach einem Jahr aussähen. Als ich wieder in die Schule kam, schaute ich mir zuerst ganz genau die Umgebung der Schule an. Sie hatte sich kein bisschen verändert. Ich hatte das Gefühl, als sei alles wie vorher. Ich war so glücklich, alle meine Freunde und Freundinnen wieder zu sehen, dass ich fast geweint hätte. Alle hatten sich äusserlich so verändert, besonders die Jungs. Wir gingen wieder in die Schule, und es war wie immer.

In den letzten zwei Jahren haben wir grossen Verlust erlitten. Wir hatten nicht die Möglichkeit an Aktivitäten teilzunehmen, aber wir haben wichtige Erfahrungen für das Leben gewonnen.

Das Jahr 2020: „Es war die beste Zeit; es war die schlimmste Zeit“

Tenzin Choezom, 10. Klasse (TCV Dharamsala)
(Mädchen)

Ich hätte nicht gedacht, dass ein Jahr, ein Datum, ein Tag so viel Bedeutung in jemandes Leben bekommen könnte, aber  ach! Ich hatte noch kein Jahr wie 2020 erlebt, bis es tatsächlich kam. Diese Zahl enthält so ein tiefes bittersüsses Gefühl für mich, weil ich glaube, ich habe noch nie so sehr gewünscht, dass ein Jahr vorüber wäre, und gleichzeitig dafür gedankt, dass es dieses Jahr gibt. Es war eine Reise, diese zwei letzten Jahre – und das ist das Mindeste, was man sagen kann. Das Ausmass an emotionaler Reife, das ich durchlebte, wäre ganz und gar nicht das gleiche gewesen, wäre das Jahr anders verlaufen, glaube ich.

Die Bitterkeit kommt natürlich durch die furchtbare Pandemie und die dadurch verlorenen Jahre meiner Jugend, meiner Kindheit. Ich glaube, dass ich niemals diesem Jahr vergeben werde, meine Kindheit fortgerissen zu haben, die Sorglosigkeit, die Möglichkeit zu beobachten, wie ich zu der Person werde,  die ich jetzt bin, all dies. Das Jahr riss so viele unglaubliche Chancen und Gelegenheiten fort, dass ich das nicht werde vergessen können. Ich glaube nicht, dass ich das Verpasste je werde nachholen können, und dafür hasse ich dieses Jahr.

Der süsse Aspekt besteht in der emotionalen Reife und der Selbstsicherheit, die ich erlangt habe. Wie ich bereits erwähnte: Wäre dieses Jahr anders verlaufen, dann könnte ich mir nicht vorstellen, dass ich jemals einen Aufsatz so schreiben würde, mit den Gedanken und der persönlichen Bandbreite, wie mein jetziges Ich sie hat. Ein weiterer süsser Aspekt ist meine Beziehung zu meiner Schwester. Die Entwicklung unserer Beziehung im Allgemeinen und unseres Austausches miteinander im Besonderen hat, in Anbetracht unseres riesigen Altersunterschieds, einen gewaltigen Sprung gemacht. Noch heute, wenn meine Schwester nach Hause kommt  und ich den ganz bestimmten Duft ihrer Körperlotion rieche, oder wir eine kleine Geste unserer Hände machen, oder etwas sagen, was wir damals zu sagen pflegten, bin ich sofort zurück im Jahr 2020. Das nostalgische Gefühl dieses Jahres ist nicht zu unterdrücken. Ein Kaffeeduft, ein Lied, das ich in jenem Jahr viel gehört habe […] und es ist, als ob das Jahr 2020 nie vorüber gegangen ist und wir nie Silvester 2020 gefeiert hätten.

(Übersetzung aus dem Engl. von Kerstin A. Paul)